Mit einem Ruck wache ich am noch erfrischend kühlen Morgen auf. Ein Nashorn hat das Ladekabel meines Netbooks gefressen und sich dann mit seinem ganzen Gewicht eines Schaufelradbaggers auf meinen kleinen Laptop fallen lassen. Dieser hat nun die Form eines hauchdünnen Crépes angenommen und würde ohne weiteres in jeden DIN A-4 Briefumschlag passen.
Ein Traum! Erleichtert sinke ich in mein muffiges Kopfkissen zurück und atme tief durch.
Sogleich holt mich das beginnende Ruckeln, Kratzen und lärmende Tütenrascheln meiner 16 nun ebenfalls erwachenden Bettgenossen in die Realität zurück.
A new day was born. Der letzte Tag in diesem Jahr.
Kathrin, unsere erfrischend unzimperliche Afrikaexpertin und Reiseleiterin lässt jedoch keinerlei Sentimentalität auf Grund des nahenden Jahreswechsels aufkommen und präsentiert uns zum Frühstück eine große Schüssel mit merkwürdig schraubenartig aussehender Gebilde tierischer Herkunft, deren starrer Blick glanzlos nach vor gerichtet ist. Getreu ihrer gewohnten Devise "... so schnell stirbt man nicht!", haben wir heute früh ergo die Wahl zwischen frisch gebratener Riesenraupen oder praktisch gar nichts.
Holger-Volker entpuppt sich dabei als hartgesottener Einzelkrieger und schmiert sich mit versteinerter Miene irgendein afrikanisches Fettgemisch in ranzig gelber Färbung auf sein schlabbriges Weißbrot. Darauf verteilt er rote und grüne Konservenmarmelade in expressionistischer Ausführung, drückt sodann dieses Kunstwerk mit einer dicken Scheibe angeschimmelten Käse zwischen die Brotporen und platziert liebevoll drei Raupenzombies auf ihre letzte Ruhestätte. In deren Mitte legt er vorsichtig die tägliche, leuchtend orangerote Malariatablette.
Und beißt hinein.
Ein ganz normales Frühstück eines ganz normalen Rotelianers eben.
Edeltraut kämpft sogleich mit einem aufkommenden Würgereiz, Schnappfisch setzt ihren Flachmann gar nicht mehr von den Lippen ab und Braunchen schießen die Tränen in die Augen, während der hartgesottene Terminator von Tropendoc kurz vor einer Ohnmacht steht.
Theo wundert sich noch darüber, warum es heute eigentlich angebrannte Erdnussflips zum Frühstück gibt und Richard möchte gern wieder nach Hause fliegen. Ich betone lautstark, dass es ja wohl viel schlimmer sei, ein durch Massentierhaltung und mit Antibiotika vollgepumptes Quälrind oder schwer pathologisches Schwein genussvoll in Deutschland zu verspeisen und sich dann in Afrika über eine gegrillte Raupe zu pikieren, die bis dato eine absolut glückliche Kindheit erlebt hatte.
Wir bestatten die verbliebenen Raupenleichen im Müllsack und brechen unser Lager ab.
Die stetig steigenden Temperaturen scheinen bereits die Vorboten von Sambias Nachbarland Malawi zu sein, welches sich selbst als "das warme Herz Afrikas" bezeichnet und in das wir nun einreisen.
Zwar sieht der Grenzübergang relativ unspektakulär aus, wird jedoch von unzähligen Schwarzgeldhändlern belagert, welche äußerst aufdringlich versuchen, ihre Devisen gewinnbringend loszuwerden. Mein Reisepass erhält einen neuen Stempel und wir müssen uns schon wieder an eine andere Währung gewöhnen.
Die Landschaft wirkt im Gegensatz zu Sambia wesentlich grüner und hügelliger und weist vor allen Dingen erheblich mehr Einwohner als sein Nachbarstaat auf. Plötzlich säumen die Sand- und Schotterstraßen Menschen über Menschen, die mit tiefschwarzen, freundlichen Gesichtern und in bunte Stoffe gehüllt, uns lächelnd zuwinken.
Als wir Malawis Hauptstadt Lilongwe erreichen, fühle ich mich stark an meine Indienreise erinnert, auf Grund des nicht abreißen wollenden Menschenstroms. Allerorten wuseln Kinder, Mütter, Greise und geschäftige Händler um uns herum. Männer im Müßiggang prägen das Stadtbild ebenso wie geschmackvoll gekleidete, meist prallbrüstige Frauen jeden Alters, die zudem stets einen Po so groß wie die Weltkugel aufweisen.
Aus diesem Grund müssen wir immer wieder Theos Kinnlade hochklappen und ihn hinter uns herziehen, damit er den Anschluss an die Gurkentruppe nicht verliert.
Aber das pulsierende Leben kann dennoch nicht die prikäre Lage des Landes verbergen. Kilometerlange Autoschlangen reihen sich am Straßenrand vor Tankstellen entlang, während die Preise für Lebensmittel und einfaches Trinkwasser minütlich ansteigen.
Unsere Fahrt führt uns weiter durch das kleine, schmale Land vorbei an Manniokstauden, Mangobäumen und Zuckerrohrfeldern sowie an unzähligen Dörfern, aus denen schreiend und winkend Kinder hinter unserem ungewöhnlichen, rotleuchtenden Gefährt herlaufen.
Am frühen Abend erreichen wir Salima, ein kleines Städtchen am gewaltigen Malawi-See, in dessen Nähe wir an der Senga Bay, direkt am Ufer dieses wunderschönen und berühmten Binnensees unser Lager in der sich herabsenkenden Dämmerung aufschlagen.
Die letzte Nacht des Jahres 2011 ist angebrochen und präsentiert sich uns in einer schwülheißen und kaum erträglichen Luft. Zur Feier des Tages schmeißt Charly einen alten, rostigen Grill an, welcher mit Kudusteaks und Burenbratwurst bestückt wird. Ich bin mittlerweile die einzig übriggebliebene Vegetarierin und bekomme stattdessen gebratene Auberginenscheiben.
Allerdings sitzt zu vorangeschrittener Stunde nur noch eine recht geschrumpfte Gruppe tapferer Afrikapioniere zum Silvesterschmaus zusammen, da nach 15 entbehrungsreichen, anstrengenden, auf Gedeih und Verderb zusammengepferchten und schier unerträglich heißen Tagen erhebliche Verluste gemeldet werden müssen.
Edeltrauts Magen hat sich immer noch nicht von der morgendlichen Raupenorgie erholt; Schnappfisch hat sich für ein paar Stunden aufs Klo abgemeldet und der Großwildjäger hat sich neben seiner Besorgnis erregenden Beinverletzung nun auch noch eine schwere Gastritis zugezogen. Der ebenfalls leidende und von sämtlichen Frauen missachtete Medizingockel heult sich bereits vereinsamt in sein miefendes Kojenkissen und möchte nicht mehr gestört werden.
Doch plötzlich hallen gellende Frauenschreie aus der sich in der Nähe befindlichen Herrentoilette heraus. Anfangs können wir uns darauf keinen Reim machen, doch dann erkenne ich an der Frauengestalt in der Dunkelheit, dass es sich dabei um Edeltraut handelt. Erschrocken brülle ich den Männern zu, dass etwas mit Eberhard passiert sein muss und laufe los. Der schweigsame, muskulöse Kai überholt mich und ist mit Adrian als erstes vor Ort. Die beiden haben einen schweißüberströmten, schlaffen und scheinbar unbeweglichen Eberhard in ihrer Mitte und tragen ihn auf eine eiligst aus einer Kabine heraus gezerrte Matratze. Totenbleich und keines Wortes mehr fähig folgt ihnen Edeltraut. Sofort werden nasse Tücher organisiert und dem an einem Kreislaufkollaps zusammengebrochenen Eberhard Luft verschafft. Zum ersten Mal funktioniert die Gurkentruppe tadellos und ohne unnötige Hysterie. Einige Reisegefährten hatten sich währenddessen zwar laut rufend auf die Suche nach unserem eigentlich darauf spezialisierten Tropendoc gemacht, brachen das Vorhaben allerdings erfolglos ab, nachdem Eberhard wieder ansprechbar war.
Wie sich später herausstellte, verpennte doch tatsächlich unser Halbgott in derzeit Dreckig-Weiß in unmittelbarer Nähe den gesamten Vorfall in seinem selbst gewählten Rotel-Schlafkabinen-Refugium.
Ich marschiere nun mit dem letzten verbleibenen und noch halbwegs gesunden Rest von fünf, sechs Expeditionsgefährten mit Rotwein, Amarulalikör und blauen Weintrauben bewappnet zum Strand des still ruhenden Malawisees hinunter. Dort lassen wir uns ebenfalls vollkommen erschöpft auf einsam herumstehende Plastikgartenstühle fallen und genießen den beruhigenden Blick auf den riesigen See.
Die auf dem Kopf stehende Mondsichel spiegelt sich auf der glatten Wasseroberfläche, während auf der anderen, weit entfernten Uferseite bunte Lichter lustig auf und ab wippen.
Eine Stunde eher als in Deutschland fallen wir uns schließlich um Mitternacht gegenseitig in die Arme mit in der Gewissheit, dass es im soeben frisch angebrochenen und noch jungfräulichen Jahr 2012 alles nur noch besser werden kann.
Wie üblich verbleiben nur Holger-Volker, Adrian und ich als letztes übrig und genießen die afrikanische Ruhe trotz der Silvesternacht. Ein bescheidenes Feuerwerk aus weiter Ferne blinkt und glitzert zu uns herüber, begleitet von einem mystisch wirkenden und immer wieder auftretenden Wetterleuchten. Um 1.00 Uhr morgens hebe ich nochmal den abgenutzten und zerkratzten Rotel-Plastikbecher hoch und proste still lächelnd meinem über alles geliebten Schatz im kalten Deutschland zu und möchte ihm damit sagen:
Die wirklich wichtigen Dinge im Leben sind gar keine Dinge ... und Liebe bedarf manchmal keiner Worte. Ich liebe dich!
Müde schleichen wir letzten drei Mohikaner zu unserem Eine-Millionen-Sterne-Hotel, während Holger-Volker noch bemerkt, dass das Wetterleuchten direkt auf uns zu kommt.
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