Welcher gottverdammte Idiot hat eigentlich seine gesamten Klamotten in Plastiktüten gepackt, anstatt sie einfach so in den Koffer zu schmeißen? Das laute Rascheln und Knistern um halb sechs Uhr morgens veranlasst mich nun doch die Augen aufzuschlagen und meinem Wolfsrudel ein fröhliches "Happy New Year" entgegen zu rufen. Sofort quiekt es aus Braunchens Kabine schrill heraus: "Ach, Schätzele, isch dasch liebele von dir. A guats Neies!" Mein Blutstrom gerät augenblicklich schockgefrostet ins Stocken. Schwäbischer Dialekt noch vor dem Aufstehen in der Tonlage einer außer Kontrolle geratenen Feuerwehrsirene ist absolut gesundheitsschädlich. Andere Rudelmitglieder sind währenddessen noch gar nicht in der Lage überhaupt zu sprechen. Edeltraut beschäftigt sich lieber damit, Eberhards schlabbrige Unterhosen, welche in anderen Ländern wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses eingezogen worden wären, in einzelne Knistertütchen zu packen und diese mit farblich markierten Wochentagen zu beschriften. Der Großwildjäger ist bereits vor einer Stunde aufgestanden, weil er dringend auf's Klo musste und sucht seitdem vermutlich den Rückweg zum Rotel. El toro medicus schnarcht noch in der Kabine über mir, während die Hyäne blitzschnell die Gelegenheit nutzt, um wie üblich als erstes die beste Dusche zu belagern. Immerhin wirft die Sepia in der allgemeinen Runde die Frage auf, ob wir aus diesem Anlass das ganze gleich mal mit einem Sektchen begrüßen sollten und Theo kräht verschlafen aus der untersten Etage, über welches Jahr wir denn eigentlich reden.
Seufzend richte ich mich in meinem mit Stauwärme angereicherten Eichkaterkobel auf und nestele mich durch das Moskitonetz. Nun steht mir wieder wie jedes Jahr der große Moment bevor. Bereits seit meiner frühesten Kindheit spiele ich mit meiner lieben Mutter zu diesem Zeitpunkt stets das gleiche Spiel: So wie der erste Mensch aussieht, den man am Neujahrsmorgen erblickt, so wird das kommende Jahr werden. Allerdings darf es sich dabei nicht um ein Familienmitglied handeln. Während ich noch über mögliche Fluchtwege aus dem kleinen Schlafkabinenfenster in Bullaugengröße nachdenke, sehe ich draußen Schnappfisch in einem ausgeleiherten Shirt mit "Anarchie für alle" Aufdruck versehen, wie sie mit der Miene des Steinbeißers aus der "Unendlichen Geschichte" gerade ihren Flachmann auffüllt.
Nun gut. So schlimm kann es dann ja nicht mehr werden. Todesmutig reiße ich den roten Vorhang zu meinen Füßen auf und starre in den Vorraum, der von nebeneinander gestapelten Koffern und Taschen und überall herumliegenden, miefigen Schuhen gesäumt ist. An einer parallel zu den Schlafkabinen verlaufenden Kleiderstange hängen von allen Reisegefährten verschiedene Wäscheteile bunt und dreckig sowie vollkommen unsortiert darüber. Nasse Handtücher, klamme Hosen, zerknitterte Hemden und auch benutzte Unterwäsche finden hin und wieder versehentlich neue Besitzer. Erst kürzlich habe ich nach drei Tagen meine schwarze, dreiviertellange Hose von Theo wiederbekommen, nachdem er feststellte, dass es sich dabei nicht um seine vermisste Shorts handelte.
Und dann sehe ich ihn, den ersten Menschen im Jahr 2012 direkt vor meiner Kabine, quasi so, wie die Natur ihn geschaffen hat, stehen.
Hektisch mit den Armen rudernd, wartet der just genesene Eberhard darauf, dass Edeltraut ihm seine Unterhose für den heutigen Tag zuweist. Verdammt!
In der Kalahari-Wüste zu ertrinken wäre wohl wahrscheinlicher gewesen, als am Neujahrsmorgen auf einen halbwegs normalen Menschen in dieser Gurkentruppe zu treffen. Wie immer wird einem aber auch rein gar nichs im Leben geschenkt.
Die ersten fleißigen Hände reißen bereits die Deckel der äußerst gefragten Konservenmarmelade ab sowie des exquisiten Muckefuck-Kaffees mit der pulverisierten Milch. Tische werden gerückt, Stühle ausgeklappt, Erdnussbutter und Käsecreme liebevoll auf dem Buffet dekoriert, während die hungrige Meute schon um ihre Futternäpfe schleicht.
Vielleicht sollte Rotel-Tours die im Preis enthaltene Halbpension einfach mal mit Astronautennahrung bestreiten. Dann müssten sie nur einen Sack Pillen für drei Wochen Afrikaexpedition mitnehmen und könnten dort, wo das Kühlfach untergebracht ist, eine Erlebnis-Doppelkabine für Paare einrichten.
Als ich gerade den verklumpten Krümelkaffee in meine Plastiktasse mit Leopardenaufdruck kratze, klatscht mir ein riesiger Wassertropfen aus direkter Fallrichtung vom Himmel mit hinein.
Scheiße aber auch! Alarmstufe rot.
Innerhalb von Sekunden verdunkelt sich der gesamte Horizont, ein heftiger Windstoß fegt bereits die Milchdose vom Tisch und ein ohrenbetäubender Donnerschlag kündigt die unbarmherzige Naturgewalt an.
Regentropfen, so groß wie Hühnereier stürzen mit einer Wucht von oben herab, als hätte Petrus persönlich die Himmelspforten geöffnet. Blitze zucken grellleuchtend aus den rabenschwarzen, dicken Wolken heraus und verjüngen sich in unzähligen Verzweigungen gen Mutter Erde, um ihre ungezügelte Energie endlich entladen zu können.
Eiligst versuchen wir zu retten, was eben zu retten ist.
Schlussendlich sitzen 17 triefend nasse und wie geprügelte Hunde aussehende Rotelianer im verschlammten Expeditionsbus und kratzen aus ihren versandeten Näpfen klebrige Weißbrotklumpen mit einer durch den Dreck gestrudelten Käsecreme und Marmeladenhäufchen. Ich halte mich an mehrere Matschbananen, die ich aus einer tiefen Pfütze gezogen hatte und schlürfe einen immerhin heißen Muckefuck dazu. Während unser Großwildjäger als einziger von uns jederzeit auf solche Wetterverhältnisse eingerichtet ist, da ich ihn fast noch nie ohne seinen Safarihut und Ganzkörperanzug gesehen habe und den er vermutlich auch nachts in seiner Koje nicht ablegt, stehen Richard bereits die Tränen in den Augen. Schließlich hatte er gestern stundenlang mit Wäschewaschen zugebracht und heute sieht er nun damit eher aus wie ein Wildschwein, welches frisch aus seiner Suhle gestiegen ist. Theo fragt das Braunchen warum es eigentlich in Afrika regnet, aber selbst nach sehr, sehr langem Überlegen und Auswägen können sich beide keinen Reim darauf machen.
Unsere heutige Fahrt führt uns stets in Ufernähe des drittgrößten Sees in Afrika, dem Malawi-See, entlang. Er ist mit seinem Längenmaß von über 500 Kilometern beinahe genauso lang wie das gesamte Land und weist zudem eine Breite von satten 80 Kilometern auf, so dass es oftmals gar nicht möglich ist, die gegenüber liegende Seite zu erkennen. In weiter Ferne, mittig über dem von mannigfaltigen Buntbarschen besiedelten See, steigen eigenartige, dunkle Rauchsäulen auf, die teilweise erschreckende Ausmaße annehmen. Es handelt sich dabei um Myriaden von Fliegen, die in monströsen Schwärmen wie Phoenix aus der Asche von der Wasseroberfläche empor steigen.
Mittlerweile vertreibt die sich erneut durchsetzende Sonne die letzten Regenwolken und ein strahlend blauer Himmel lacht uns geradezu aus, da durch die schnell ansteigende Hitze zwar innerhalb kürzester Zeit alles wieder getrocknet ist, aber keineswegs sauber. Unser versandeter Schmuddelbus sieht aus, als wäre der gesamte Sambesi dort einmal durchgeflossen und hätte uns als Strandgut zurück gelassen.
Shit happens.
Wir hätten ja auch drei Wochen Mallorca All-Inclusive-Cluburlaub buchen können und uns dort mit dusseligen Bändchen am Arm über Spülflecken am Longdrinkglas aufregen können.
Noch am frühen Nachmittag erreichen wir das Camp Chinteche, welches unmittelbar am Malawi-See liegt. Und erst jetzt offenbart sich uns ein atemberaubender Anblick einer Naturkostbarkeit, die mehr Süßwasserfischarten aufweist, als jeder andere See der Erde. Kristallklares Wasser in türkisfarbenen Nuancen bricht sich in seichten Wellen an einem feinen, weißen Sandstrand, der im reflektierenden Sonnenlicht glitzert.
Ich fühle mich wie Robinson Crusoe und bin mir sicher das Paradies auf Erden gefunden zu haben.
Ausnahmslos alle verdreckten und versüfften Rotelianer werfen ihre muffige Kleidung von sich und stürzen sich augenblicklich in die lauwarmen Fluten. Was für eine Entschädigung für das morgendliche Dilemma.
Plantschend freue ich mich wie ein kleines Kind und bedaure lediglich, dass ich diese Glücksgefühle nicht mit meinem Freund teilen kann. Immer wieder hüpfe und tauche ich in diesem klaren Wasser, denn ich bin auf der Suche nach etwas ganz Bestimmten. Er muss sich ganz glatt anfühlen, Hosentaschengröße haben und in der Sonne in allen Regenbogenfarben funkeln.
Und dann finde ich ihn. Einen perlmuttfarbenen, durch das Wasser glattgeschliffenen Stein, der die Wärme und Seele Afrikas durch Jahrmillionen in seinem Inneren gespeichert hat.
Er ist ein Geschenk für einen Menschen, dessen Wärme und Liebe in meinem Herzen verankert ist.
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